Rover 3500 V8
Völlig
unterbewertet
In einem Rover 3500 steckt all das auf einmal, wofür sonst gleich
mehrere Fahrzeuge benötigt werden. Ein P6 ist anders, ungewöhnlich und
gemessen an seinen Talenten einfach viel zu billig. Warum bloß?
Der Rover P6 3500 ist die Wundertüte unter
den großen Limousinen. Konstruktion und Design zeigen
Seelenverwandtschaft mit Citroen, der von GM entwickelte Motor gehört zu
den fortschrittlichsten V8 seiner Zeit, Leumund und Machart liegen auf
Mercedes-Niveau, beim Temperament nimmt er es mit einem Jaguar auf, und
seine Eigenartigkeiten stünden selbst einem Saab gut zu Gesicht.
Fünf Nationen. Fünf große Namen. Von allem
das Beste, und das in nur einem Auto - wo gibt es so etwas noch? Ginge
es um Anspruch und Selbstverständnis, kämen für seinen Besitzer
sicherlich auch die oben genannten Hersteller infrage. Aber in der Summe
seiner Eigenschaften ist der Rover ihnen überlegen. Würde ein P6 nach
inhaltlichem Kilopreis berechnet, er wäre eigentlich kaum zu bezahlen.
Allerdings wissen nur die Wenigsten von
diesen Werten. Der Rover P6, die etwas andere englische Mittelklasse der
60er- und 70er-Jahre, ist wohlfeil und erfreut hierzulande nur einen
kleinen Kreis anglophiler Liebhaber. Dabei hat er ausreichend Potential,
um auch Sympathisanten anderer automobiler Kulturkreise zu begeistern.
Es fällt schwer zu glauben dass der P6, das
sechste neu konstruierte Modell der Marke nach dem Krieg, tatsächlich in
einer Zeit wurzelt, in der der ehemalige Fahrradbauer Rover selbst im
Vereinigten Königreich als konservativ und undynamisch gilt. Das
Markenimage bestimmt damals der steiflippige, 1954 vorgestellte Rover
P4. "Auntie", Tantchen, wird der schwere pummelige Ponton-Saloon gegen
Ende seiner Laufbahn gerufen - und eisern bis 1964 weitergebaut.
Auf halber Strecke der
Entstehungsgeschichte, als der P6 allmählich Gestalt annimmt, lanciert
Rover 1958 den größeren, moderneren P5, der den Kosenamen "Elephant"
erhält. Mit hochwertiger Anmutung und erhabenem Auftreten empfiehlt er
sich einer gehobenen Klientel sowie für den Dienst in Ministerien und
Behörden - und dreht in der Midlife-Crisis völlig durch. Die
Rover-Firmenleitung ist in den USA über den technisch ehrgeizigen, aber
teuer zu produzierenden Leichtmetall-V8 gestolpert, der nach einigen
erfolgreichen Jahren in Buick-, Oldsmobile- und Pontiac-Modellen
abgeschrieben in der Ecke steht.
Rover greift dankbar und weitsichtig zu: Der
Alu-V8 ist kompakt, viel leichter und nach einer eingehenden
Überarbeitung auch stärker als die steinalten eigenen Vier- und
Sechszylindermotoren. Dank dem Rover-V8, der im Laufe seines über
40-jährigen Daseins unter anderem auch in Modellen von Morgan, TVR,
Triumph, MG und natürlich Land Rover arbeitet, wird 1967 aus dem
kommoden P5 3 Litre der dynamische 3,5 Litre P5B.
Eine Randnotiz der Auto-Geschichte: Es ist
das sportlich gekleidete P5B Coupé, das die Wagengattung des viertürigen
Coupés begründet. Und nicht der eitle Mercedes CLS, der erst 2003 auf
der IAA steht.
Warum das alles erzählt werden muss? Weil
nur so begreiflich wird, welch unglaubliche Zäsur der P6 für seinen
Hersteller im Besonderen und die britische Autoindustrie im Allgemeinen
bedeutete. In Erdzeitaltern gesprochen: Der Entwicklungssprung nahm sich
in etwa so groß aus, als wäre eben ein Lurch aus dem Wasser gekrochen
und hätte am nächsten Tag als Hominide Feuerstein-Speerspitzen
gefertigt. So ungefähr.
Die Entwicklung des P6 beginnt 1956, erst
1963 wird der Rover 2000 vorgestellt; das fertige Endprodukt ist und
bleibt in der englischen Autoindustrie ohne Vorläufer und Nachfolger.
Der neue Rover entsteht wie aus dem Nichts, an ihm ist alles anders.
Die Revolution beginnt in der Produktion.
Das tragende Stahlskelett, vom Zulieferer Pressed Steel gefertigt,
komplettieren Arbeiter in Solihull zuerst mit Achsen und Rädern, Antrieb
und Elektrik und gehen anschließend mit dem fahrfähigen Rohbau auf
Testfahrt. Erst nach dieser ersten Qualitätskontrolle, einer Art halber
Hochzeit, beplanken sie im Werk den Fahrzeugkorpus mit Dach, Türen,
Kotflügeln sowie den beiden Leichtmetallhauben und verbauen das
Interieur.
Es ist die französische Inspiration des P6,
die hier zum Tragen kommt. Die Grundkonstruktion hat Rover mit einem
langen Blick auf die beeindruckende Citroen DS entworfen und sich selbst
deren Fahrkomfort als Maßstab genommen. Weil die Rover-Ingenieure an
keinerlei Vorgaben, bestehende Bauteile oder markentypische Eigenheiten
gebunden sind, fällt das Fahrwerk gehörig aus der Norm. Das Heck erhält
eine De-Dion-Achse, während die vordere Radaufhängung mit waagerecht
liegenden, sich an der Spritzwand abstützenden Schraubenfedern operiert.
Ob die von der Leine gelassenen Entwickler damit einfach nur ihr eigenes
Ding machen wollten oder tatsächlich der Einsatz einer seit 1950 bei
Rover in Erprobung befindlichen Gasturbine im extra-großen Motorraum
geplant ist, steht zur Diskussion.
Fakt ist, dass in der Konstruktion keine
Halbheiten zu entdecken sind. Der Motor: komplett neu. Ein
Zweiliter-Reihenvierzylinder mit Heron-Brennräumen und oben liegender
Nockenwelle. Die Bremsanlage: kompromisslos. Vier Scheibenbremsen
rundum, hinten innenliegend. Die passive Sicherheit: ohne Beispiel.
Große, beleuchtete, verwechslungssicher geformte Schalter, breite
gepolsterte Handschuhfachdeckel vor den Knien von Fahrer und Beifahrer.
Der Qualitätsstandard: höchstes Niveau. Schwere Türen, festes Leder,
Chrom und Edelstahl, geschmackvoll und pointiert gesetzt. An einem P6
kann erfühlt werden, welch hohem Standard die Marke einmal genügte. Die
lausige Machart führte erst der Zusammenschluss der Kranken und Siechen,
British Leyland, mit dem Nachfolger SD1 in Solihull ein.
Natürlich war es der Rover 2000, der vor 50
Jahren erstmals den europäischen Ehrenpreis "Auto des Jahres" verliehen
bekam - als wäre der Titel für ihn erfunden worden.
Solch frühe P6 mit ruhiger Farbgebung und
Vierzylinder wirken heute filigran und klassisch. Späte Typen in
flirrenden 70er-Tönen - es gab Farben wie Paprika, Avocado oder Safran,
die genauso aussahen, wie sie hießen - kommen erwachsener und maskuliner
daher. Und wenn vielleicht auch noch ein Vinyldach aufgezogen ist und
das Ersatzrad zur Vergrößerung des arg kleinen Gepäckraums auf den
Kofferdeckel gesteckt wurde, wirken sie auch durchaus exaltiert.
Zugegeben: Zum stimmigen Gesamtkunstwerk
braucht es unbedingt den V8, zu erkennen am großen Lufteinlass unter der
Motorhaube. Mit dem starken US-Motor swingt der feine Wagen: Erst legt
er sich wattig in die Kurve, dann zieht ihn der Achtzylinder mit sämigem
Drehmoment und sanftem Ami-Gurgeln wieder raus. Weil der P6 weder groß
noch schwer ist, fühlen sich 3,5 Liter und 140 PS trotz allen gebotenen
Komforts hier sogar ein wenig nach Muscle Car an. Dabei freut sich der
Fahrer, dass er keine vierzylindrige DS, keinen fahrwerktechnisch
schlichten Buick, keinen steifen Mercedes, massenkompatiblen Jaguar oder
sonderlichen Saab gewählt hat.
Zugegeben - es hat heute auch mit einem
gewissen Maß an Snobismus zu tun, einen unterbewerteten Exoten wie den
P6 gut zu finden. Die Leute von der BL-Werbeabteilung haben es wohl
schon damals gewusst, sonst hätten sie nicht diesen Slogan gedichtet:
"Outstanding. Ein Wagen, den nicht jeder fährt, weil nicht jeder seinen
Wert beurteilen kann." Diese Erkenntnis hat bis heute Gültigkeit.
AutoBildKlassik / Deutschland 2014
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