Rover 2000

Avantgarde auf Englisch

Wenn die englischen Autobauer, hauptsächlich aus Exportrücksichten, im Fall Rover aber etwa seit 1950 auch aus Spaß an der Freude, sich von Konventionen befreien und konstruktives Neuland erobern, dann tun sie´s, das muß man ihnen lassen, ganz ungemein gründlich, konsequent, einfallsreich und ohne jede Scheu vor technischem Aufwand. Solide Langweiligkeit verwandelt sich in hochinteressante, alle Fachleute verblüffende und faszinierende Solidität.

Beispielsweise hat die Karosserie des Rover 2000 nichts gemein mit dem Prinzip der selbsttragenden Karosserie üblicher Großserienwagen, aber auch nichts gemein mit der altbekannten Rahmenbauweise. Eher darf man an die Zellenkonstruktion im Flugzeugbau denken, wo bekanntlich bei wenig Gewicht eine ganz außerordentliche Festigkeit, auch gegen Verwindung, erreicht wird. Hier wie dort steckt unter dem Blech ein raffiniertes Gerippe aus Stahl-Profilträgern, es ergibt sich eine Art Käfig über einer steifen Bodengruppe, und das Blech ist lediglich Verkleidung, Beplankung, jederzeit da auswechselbar, wo man mal im Gedränge anstößig war oder angestoßen wurde - ein eigentlich für den Fahrer des Rover 2000 besonders unverzeihliches Ereignis, denn Sicht und Übersicht sind hier überlegen dank besonderer Tieflage der Motorhaube und dank der beim Parkieren sehr deutlichen Begrenzungen des Hecks - von der ebenso leichtgängigen wie exakten Lenkung und der äu0erst wirksamen Bremse gar nicht zu reden.

Wichtig: die mittlere der dreifach unterteilten Spurstangen verläuft in der sicheren Region hinter dem Motor, das Lenkgetriebe ist an der Spritzwand befestigt, ein Universalgelenk läßt außerdem, wenn´s hart auf hart geht, die kurze Lenksäule abknicken. Natürlich erlaubt es auch, den Winkel und damit die Lenkradneigung nach unserem Gusto zu verstellen. Überhaupt besteht der Rover 2000 fast ganz aus unkonventionellen, vorbildlichen Fortschritten. Einige davon möchte man sämtlichen Automobilbauern geradezu mit dem berühmten Nürnberger Trichter einflößen; andere sind, außer daß sie sensationell sind, allerdings so aufwendig, daß sie vorerst wohl oder übel den Käufern vorbehalten bleiben werden, die rund 14.000 DM gelassen aufblättern können.

Dafür können sie dann auch in aller Gelassenheit auf zu schlechten Straßen erheblich zu schnell sein, ebenso in Kurven, es fällt nicht weiter auf und hat nichts auf sich. Federungskomfort gleichbleibend hochgradig mit für Stahlfederung ungewöhnlichem Schluckvermögen. Keinerlei Tendenz zu seitenspringender Spuruntreue. Der ungemeine Federungskomfort hat ebenso wie die Straßen- und Kurvenlage natürlich gute Gründe: das Fahrwerk des Rover 2000 ist ungewöhnlich und weit entfernt von billiger Simplizität. Vorn liegt die Schraubenfeder hoch oben im Radkasten. Ich sage: l i e g t. Das ist buchstäblich zu verstehen. Das Rad hat mit ihr über eine senkrechte Strebe und einem Winkelhebel zu tun. Spürbarer Nutzeffekt: hohe Abstützung, niedriges ungefedertes Gewicht, sensibles Ansprechen der Federung. Nebenbei, aber keinesfalls nebensächlich, ergibt sich ein besonders großer Radeinschlag. Womöglich noch avantgardistischer geht es hinten zu, wo die Vorteile der Starrachse ohne deren Nachteile sich vereinen mit den Vorteilen der Einzelradaufhängung ohne deren Nachteile. Das klingt kompliziert und fast unerreichbar, ist aber, wie die Konstrukteure in Solihull bewiesen haben, heute oder ab heute eine bloße Geldfrage... Also: Doppelgelenkwellen ohne Schiebestücke verbinden das am Wagenboden befestigte Differential mit den Hinterrädern, die folglich vom Gewicht des Differentials etc. und auch der dicht ans Differential gelegten Scheibenbremsen befreit sind. Querlenker führen in Querrichtung, in Längsrichtung werden die Räder durch eine Art Wattgestänge geführt, bei dem die vorderen, längeren Längslenker dominieren; die hinteren Streben sind kurz und oberhalb der Radlager angelenkt. Verbindung miteinander haben die Räder durch eine neuartige Version der DeDion-Achse; genau besehen handelt es sich um ein Rohr mit eingesetztem Teleskopstück. Weil ja eine bestimmte Spurveränderung u.a. infolge Fehlens von Schiebestücken an den Doppelgelenkwellen möglich ist. Aber dieses "Schieberohr" sorgt natürlich für konstanten Winkel der Räder untereinander. Im Endeffekt kommt die Raderhebungskurve der idealen Forderung nach.

Was das praktisch bedeutet, hat uns in unseren Versuchskurven und in den, was die Oberflächenbeschaffenheit betrifft, nicht weniger miserablen Kurven abseitiger Bergwege auf unserem Hochalpen-Testkurs sehr beeindruckt. Die Bodenhaftung aller Räder ist auch unter so extremen Bedingungen optimal, man fühlt sich ebenso sicher wie komfortabel.

A propos Fahrgefühl: exklusiv. Auch der technisch Uninteressierte kann sich dem Eindruck nicht entziehen, einen ungewöhnlichen und markanten, einen besonderen und besonders vollkommenen Wagen zu fahren. Wenn Klubsessel und sportlicher, anatomisch richtiger Schalensitz sich vereinigen lassen - hier wurde es tatsächlich geleistet. Komfortablere und in jedem Sinne richtigere Sitze sind kaum denkbar. Und selbstverständlich bedroht kein Handbremsengriff unsere Kniescheibe, ebenso fehlt die bekannte Haltlosigkeit des lediglich von einigen unordentlichen Kabeln oben durchgezogenen Dunkel - statt dessen auch hier flache, weiche, lederüberzogene Polster vor Fahrer und Beifahrer(in). Klappt man sie auf, eröffnen sich rechts und links reichlich bemessene Fächer für alles, was sonst im Handschuhfach Platz findet - und für noch so manches mehr.

Ebenso erfreulich die Klarsicht nach vorn, selbst bei fatalem Eisschnee, der sich üblicherweise auf der Frontscheibe derart festzusetzen pflegt, daß die Wischer nutzlos über seine Glätte hinweggleiten, Kommt hier gar nicht in Frage, denn die Motorhaube hat vor der Frontscheibe in gesamter Breite einen Schlitz, aus dem Wärme die Scheibe emporstreicht... Ja, Einfälle muß man haben! Dieser hier kostet nicht einmal was.

Motor selbstverständlich neu und in vielen Einzelheiten neuartig. Zylinderkopf aus Leichtmetall mit flacher Unterseite. Brennraum? Als halbkugelförmige Ausmuldung im Kolben. (Hat sich übrigens schon bei Dieselmotoren bewährt.) Obenliegende Nockenwelle mit zweistufigem Kettentrieb wirkt unmittelbar auf die Ventilstößel. Kurbelwelle selbstverständlich fünffach gelagert.

Motor-Auslegung konsequent auf Fahrbequemlichkeit. Daher eine heute ganz ungewohnte Elastizität. Die Durchzugskraft bei niedrigen Drehzahlen ist verblüffend. Schaltung mit optisch sehr sportlich wirkendem kurzen Knüppel und extrem kurzen Wegen. Denkbar handlich. Aber wir haben schon lange keinen Wagen mehr gefahren, bei dem, trotz unserer zügigen bis scharfen Fahrweise, so selten geschaltet werden mußte. Eine derartige Motorauslegung macht Automatik eigentlich entbehrlich.

Die besondere Leichtgängigkeit der Kupplung versteht sich bei diesem Gesamtniveau von selbst. Verarbeitung ganz unzeitgemäß sorgfältig und exakt. Erwähnenswert ist die Qualität der Lackierung. Sie hängt hier übrigens auch mit der Bauweise zusammen. Die einzelnen Karosserieelemente werden für sich lackiert und dann erst an den weitgehend fertig montierten Wagen angeschraubt. Die Bleche haben keine tragende Funktion, der Wagen ist auch ohne sie durchaus fahrfähig. Das hat nicht nur theoretische Bedeutung, es ermöglicht eine besonders sorgfältige Lackierung und schließt aus, daß infolge nachträglicher Montagearbeiten Lackbeschädigungen auftreten.

Fazit: unauffällig vornehme, durch den Seltenheitswert auffalllende, beim Parken bald von interessiertem Publikum umringte, unterwegs oft von Fahrern, die eine Bildungslücke in ihrer Typenkenntnis schließen möchten, geradezu verfolgte Sonderklasse von hoher Qualität und wegweisender Konzeption. Handlich und wendig im Stadtgedränge, bequem, sicher und schnell auf großer Reise, auch auf langen Steigungen ein unentwegter Dauerläufer. Wer sich´s leisten kann, genießt, was der Automobilbau zu bieten hat, wenn... ja, wenn der rechnende Rotstift sich dem Konstrukteur unterordnet - statt umgekehrt.

Carl Conrad

Das Tankstellen- und Garagen-Gewerbe / Deutschland 10/1965

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